1990 brachten die Deutschpunker Graue Zellen ihre erste EP "Hunger nach Leben" in Eigenproduktion heraus, es folgten eine weitere EP 1993 und eine Split-LP mit NAYTIA 1994, bevor Rodrec, das Label des Ärzte-Bassisten Rod Gonzales, die Rendsburger unter Vertrag nahm. "Voran ins gestern" hieß 1996 die erste komplett eigene LP, die noch stark hardcorelastig klang. Dann veränderten Jan (Gesang), Knuth (Gitarre), T.R. (Bass) und Kai (Drums) ihren Stil und veröffentlichten 1998 mit "Nichts bleibt stehen" eine Scheibe, die mehr songorientierten Punkrock bot, melodischer, auch mal ruhiger, abwechslungsreicher. Den eingeschlagenen Weg gehen die Jungs nun auf "Krauts" weiter, und in puncto Line-Up haben sie mit Steffen einen zweiten Gitarristen integriert. Wir stellen den Brüdern Jan und Kai einige Fragen.
MUM: Ihr integriert in euren deutschsprachigen Punkrock ja auch eine gehörige Portion Alternative Pop und stellenweise Ska. Würdet ihr euch trotzdem klar als Deutschpunkband definieren?
Kai: Ich weiß nicht, bei welchen Songs Du explizit Ska raushörst. Einer unserer Einflüsse sind The Clash, was mitunter an der Rythmusgitarre zu hören ist, z.B. beim Song "Dieser Sommer". Wir sind zwar eine Punkband mit deutschen Texten, haben aber wohl nie wirklich zur sogenannten Deutschpunkszene gehört. Ich für meinen Teil fühle mich mit Bands wie Neurotic Arseholes, Ton Steine Scherben oder Slime verbunden.
Jan: Wir waren nie eine Deutsch-Punkband, nur weil wir deutsch singen. Es ist nun mal die Sprache, in der wir uns am besten artikulieren können. Abgesehen davon fühle ich mich von meiner persönlichen Attitude her eher dem End-80er-Hardcore-Spirit verbunden, was auch immer in der Musik und in den Texten Ausdruck fand und findet. Letztlich waren wir schon immer eine Punkband, die zwischen den verschiedenen musikalischen Szenestühlen stand… und gute Punk- wie auch Popsongs liebt und selbst machen will!
MUM: Wie seid ihr darauf gekommen, euch 1998 mehr der melodischeren, songorientierteren Schiene zuzuwenden? Haben euch da andere Bands inspiriert?
Kai: Immer schon haben wir uns bemüht, an uns zu arbeiten, uns weiterzuentwickeln. 1998 haben wir angefangen, unsere Arbeitsweise zu ändern: die Songs werden seitdem zu Hause, oft auch an der Akkustikgitarre geschrieben, es geht also nicht mehr primär um Riffs, sondern vielmehr um Songs bzw. Lieder im ursprünglichen Sinne. Clash hatte ich ja schon erwähnt und die sind ja ein Paradebeispiel für Weiterentwicklung und eine große musikalischer Bandbreite – man vergleiche allein die erste Scheibe mit dem extrem experimentellen Dreier-Album "Sandinista". Auch bei Bands wie Crass oder Razzia, um auch eine Deutschpunkband zu nennen, gab es interessante, teils radikale Veränderungen. Die wichtigsten Gründe für unsere stetige Veränderung liegen wohl sicherlich in unseren persönlichen Biographien. Da gibt es Entwicklungen, die sich natürlich auf die Musik abfärben, alles andere wäre ja auch verlogen. Und auf der Stelle stehen, mich im Kreis drehen, das möchte ich nicht.
Jan: Dazu kommt, dass 1997 ein Zeitpunkt für uns als Band erreicht war, an dem es anfing, keinen Spaß mehr zu machen, das Hardcore-Brett der "Voran ins gestern"-Scheibe (erschienen 1996) zu spielen. Wir waren in dieser Entwicklung an einem Endpunkt angekommen und liefen Gefahr, etwas, was für uns persönlich mal echtes Feuer war, zu kopieren. Da gab es nur die Möglichkeit, auf die Suche zu gehen, auszuprobieren, zu verändern. Erfreulicherweise hat das geklappt, ohne das Bandgefüge zu zerreißen. Die Alternative wäre die Bandauflösung gewesen. Seit diesem Schritt haben wir für uns neues Feuer gefangen, es bringt Arschbock zu spielen, im Proberaum und live, es deckt sich einfach mit dem, was uns entspricht und wo wir stehen.
MUM: Muss man nicht immer mit dem Vorwurf leben, nun kommerzieller zu musizieren, wenn man einen solchen Schritt geht? Oder wie haben die Fans das aufgenommen? Mir gefällt das neue Album ja gut!
Kai: Bei einem solchen Schritt als kommerziell bezeichnet zu werden, halte ich für absolut lächerlich. Und wenn es so sein sollte, dass die Musik auf dem neuen Allbum "Krauts" mehr Leute anspricht als vorher, kann man uns daraus ja wohl keinen Vorwurf konstruieren. Vielleicht werden wir sogar alte Fans verlieren, aber dafür auch neue hinzugewinnen. Peinlich und bezeichnend für den Zustand in Teilen der Szene finde ich allerdings, wenn uns Leute vorwerfen, nicht mehr politisch genug zu sein – dieser Vorwurf ist tatsächlich gekommen –, nur weil unsere Musik melodischer geworden ist, inhaltlich hat sich bei uns nämlich überhaupt nichts geändert.
MUM: Wieso habt ihr einen zweiten Gitarristen in die Band genommen?
Kai: Wir wollten einen breiteren, nuancenreicheren Sound, nicht nur auf Platte, sondern auch live. Steffen wohnt seit über fünf Jahren mit mir zusammen und ist mit allen aus der Band befreundet. Auch musikalisch gibt es eine enge Verbundenheit und so lag es nahe, ihn mit seinen Fähigkeiten als Verstärkung in die Band zu holen.
Jan: Übrigens spielt Steffen schon seit einigen Jahren zusammen mit Kai und T.R. bei den grandiosen Clash City Rockers!
MUM: Ihr seid ja nun schon eine ganze Zeit auf Rodrec. Kam euer Kontakt zu Rod Gonzales zustande, als ihr mal mit den Ärzten gespielt habt, oder kennt ihr euch schon länger?
Kai: Der Kontakt kam über Barbara zustande, die wir bei einem Konzert mit But Alive kennenlernten. Rodrec gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht, war allerdings schon in Planung. So wurden wir eine der ersten Bands bei Rodrec, dessen Managerin Barbara ist.
Jan: Über Barbara haben dann erst Rod kennengelernt.
MUM: Worum geht es in euren Texten, mal so generell gesehen?
Kai: Mal so generell gesehen geht es um alles was uns bewegt, und das ist alles, was mit unserem Leben auf dieser Erde zusammenhängt: der Mensch lebt in Gesellschaften, bildet Staaten, baut Städte, sehnt sich nach Liebe, führt Kriege, hat ein unfaßbar zerstörerisches Potential, schafft Kunst,…usw. Wir sind ein Teil davon und müssen bzw. wollen uns damit auseinandersetzen.
Jan: Alle Facetten des Alltags finden sich in den Texten wieder: Liebe, Trennung, Hoffnung, Schmerz, Politik, Leben, Spaß, Hass. Sie sind letztlich wie ein Teil meiner Biographie, wenn ich alte Scheiben höre, erkenne ich tausende Situationen und Stationen meines Lebens wieder. Klar haben Beziehungen zu Menschen einen Schwerpunkt, ich verarbeite fast ausschließlich selbst erlebtes in meinen Texten. Persönliche Höhen im Verliebtsein, im Gefühl in eine neue Stadt zu ziehen, ebenso wie persönliche Krisen, Trauer, Trennung oder die Suche nach einem Sinn und einem Platz im Leben. Ein weiterer Schwerpunkt ist natürlich immer die Betrachtung der politischen Entwicklung in diesem Land, ganz einfach aus dem Grund, dass das ein wichtiger Teil meines bzw. unseres Lebens ist. Ich will verändern, gebe mich mit den Verhältnissen hier nicht zufrieden, das findet ganz klar Ausdruck in den Texten, sei es z.B. im Bezug auf den Krieg gegen Jugoslawien oder in Bezug auf antifaschistische und antinationalistische Positionen. Uns war es immer wichtig klar, politisch Stellung zu beziehen, zumal wir unsere Wurzeln in der linksradikalen Szene haben und zum Teil immer noch aktiv Politik innerhalb dieser Szene machen. Musik hatte für mich immer diese grandiose Ventilfunktion: rauslassen, sich ausdrücken, Position beziehen. Egal um welchen Bereich meines Lebens es geht!
MUM: Was war euer witzigstes Erlebnis bisher in eurer Musikkarriere, was das beschissenste?
Jan: Ein grandioser Auftritt von T.R. bei einem Konzert in Heidelberg, bei dem er bei dem letzten Song mit Kai das Instrument wechselte, am Schlagzeug saß und beim letzten Drumschlag mitsamt Hocker rückwärts die Bühne eineinhalb Meter runterfiel und dabei den riesigen Vorhang hinter der Bühne – ca. 8 x 3 Meter – mit runterriss, wird mir auf jeden Fall (mitsamt des Gelächters des ganzen Mobs) lange in Erinnerung bleiben. Beschissene Erlebnisse: in erster Linie Kackpennplätze. Da ich grade relativ gut gelaunt bin, werde ich keine VeranstalterInnen dissen!
MUM: Warum eigentlich so viele Kartoffeln, Möhren und so auf dem Cover und im Booklet? Sind die Deutschen Kartoffeln?
Jan: Wir hatten Bock, ein politisches Cover zu machen, hatten aber kein Bock, ein bierernstes Betroffenheitscover abzuliefern. Da kam ein Freund der Band auf die glorreiche Idee, die Wiedervereinigung mit Gemüsen darzustellen: Deutsche Kartoffeln, die natürlich gleich unschuldigen Spargel zerhacken und Möhren bedrohen. Zum Glück gibt’s ein Happy-End: Kartoffelschäler und -stampfer besorgen es dem deutschen Mob, verarbeiten ihne zu Pommes und das Brandenburger Tor brennt. Ist doch ’ne geile Vorstellung, oder?
MUM: Geht ihr auf Tour? Wann, wo, mit wem?
Jan: Wir waren grade auf Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, größtenteils alleine und Teile mit den süßen Jungs von STRAHLER 80 aus Linz. Im Sommer stehen je zwei Wochenenden pro Monat auf dem Programm und im Herbst zwei weitere Touren. Eine davon alleine und eine wohl im Package, ist jedoch noch nicht klar, mit wem. Aktuelle Dates können unserer Homepage: www.graue-zellen.de oder www.rodrec.com entnommen werden.
MUM: Ihr seid ja auch politisch. Was geht euch in dieser Beziehung momentan am meisten gegen den Strich?
Jan: Ein weites Feld! Ganz aktuell vor dem Hintergrund des mittlerweile fünften Naziaufmarsches innerhalb eines Jahres hier in Hamburg, muss ich sagen, daß mich die Tatenlosigkeit diesbezüglich total ankotzt. Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen! Der gesamte Nazisumpf gehört verboten und zerschlagen. Ich habe jedoch keine große Hoffnung, in diesem Falle auf die Politik zu setzen, da der Stiefelfaschismus meiner Ansicht nach eh nur der militante Ausdruck einer rassistischen deutschen Mehrheitsgesellschaft ist: rot-grün schiebt Flüchtlinge auch ohne mit der Wimper zu zucken in Kriegsgebiete und Folterkammern ab. Dies wird getragen von weiten Teilen der Bevölkerung, der Medien, Justiz und dem Polizeiapparat sowieso. Da ist der Stiefelnazi auf der Straße eine – sehr gefährliche – Spitze eines rassistischen Eisberges, der seine Wurzeln tief in der Mitte der Gesellschaft hat. Wenn ich mir da ansehe, wie schnell in Österreich Faschisten mitregieren können, wird mir diesbezüglich auch für dieses Land Angst und Bange. Wenn ich jetzt hier richtig loslegen würde, würde das den Rahmen dieses Interviews auf jeden Fall sprengen! In Kürze: die Verhältnisse in diesem Land passen mir grundlegend nicht!
MUM: Was hört ihr privat so für Musik?
Kai: Ich liebe neben den Punkklassikern wie den bereits genannten Clash oder Jam, Buzzcocks, Pistolen, Dead Kennedys schon immer auch diverse Popbands wie Beatles, Blondie, aber auch Liedermacher und Sänger wie Wader, Busch. Rio Reiser möchte ich hier auch nicht unerwähnt lassen.
Jan: Kais und mein Geschmack sind auf jeden Fall recht ähnlich, also zählt alles oben erwähnte. Dazu höre ich gerne Team Dresch, Cub und weiteres aus dieser Ecke. Alte Punk- und HC-Klassiker sowieso, gute deutsche Punkbands, aber auch Popscheiße querbeet, elektronisches Zeugs, Drum&Bass, eigentlich alles, was gut ist, mich neugierig und mir Spaß macht.
MUM: Nenne bitte deine drei Lieblingsalben aller Zeiten, und deine momentanen Favoriten aus relativ aktuellen Scheiben.
Kai: Meine drei Lieblingsplatten aller Zeiten:
CLASH – London Calling
BEATLES – weißes Album
H. WADER – singt Arbeiterlieder
Eine der wenigen aktuellen Bands, die ich gut finde, sind Placebo.
MUM: Wo und mit wem würdet ihr gerne mal live spielen?
Jan: Mit Dead Kennedys und The Clash in Originalbesetzung auf der Orange Stage in Roskilde, Dänemark!
MUM: Wie seht ihr denn die Deutschpunkszene überhaupt so, lebt die noch richtig?
Kai: Die Hochphase des Deutschpunk war für mich Mitte der 80er, da fand ich viele Bands sehr aufregend. Heute gibt es weitaus weniger Bands auf dem Sektor, die mich wirklich ansprechen. Die APPD hat mich nie interessiert.
Jan: Deutschpunk ist für mich eh ein recht klischeehafter Begriff und hat mit meinem Leben nicht viel zu tun. Punk, ja. Das ist ein Teil meines Lebens, hat mich persönlich total verändert und wird mich immer prägen. Wut, Aggression, Spaß, Aktivität sind Teil davon. Ich habe über Punk international großartige, aktive Menschen kennengelernt, die ich sonst niemals kennengelernt hätte. Wenn Du das meinst, lebt Punk noch immer, auf unseren Konzerten erlebe ich das oder hier in Hamburg zum Beispiel auf Konzerten in der Roten Flora, im Onkel Otto, im Molotov. Wenn auch nicht mehr so euphorisch wie früher. Mir geht jedoch konservatives Schubladendenken innerhalb der Szene ziemlich auf den Zeiger. Das greift leider ebenso um sich wie eine zunehmende Entpolitisierung. Ich muss sagen, dass mich persönlich in erster Linie die Integrität und der Mensch an sich interessieren, da ist es mir scheißegal, ob er oder sie was mit Punk zu tun hat oder nicht.
MUM: Meine typischer Abschluss: welche Frage wolltest du schon immer mal gestellt bekommen, und wie würde die Antwort lauten?
Jan: Die Frage wäre "Warum werden dir nur allzugern solche Abschlussfragen gestellt?", meine Antwort: "Ich habe nicht die leiseste Ahnung."
(Tobi)