- Review von Philipp (Dremufuestias)
So viele Bands kannte ich noch nie auf einem KIEL-EXPLODE-Billing! Häufig sagten mir alle auftretenden Bands im Vorfeld vollständig nullinger, dieses Mal befinden sich mit GOLD, SVALBARD, FREDAG DEN 13:DE und THE TIDAL SLEEP gleich vier Combos auffer Liste, die ich bereits vorher irgendwo live erleben konnte. Das kommt zum einen natürlich schlicht durch den regelmäßigen KIEL-EXPLODE-Besuch, denn SVALBARD und THE TIDAL SLEEP wurden nach ihren Auftritten 2016 bzw. 2015 erneut eingeladen. Und im Falle von GOLD sowie FREDAG DEN 13:DE haben Andre, Klemsen und Co zwei Leckerbissen mit aufs Menu gehievt, die außerhalb dieses geschätzten Festivals bereits im Wolter’schen Radius gespielt haben. Bleiben immer noch vier Unbekannte für mich. Ich will möglichst alle mitbekommen, konnte ich doch das 2017er EXPLODE nicht besuchen, verspüre daher Nachholbedarf. Und das gelingt auch, also genug des Vorabgeschwafels und hinein ins Getümmel:
Natürlich ist das KIEL EXPLODE mehr als nur die auftretenden Bands. Es gibt schließlich auch den Kuchen! Von dem sagen manche, es sei der beste der Stadt. Ich teste immerhin das Schoko/Rotwein-Ding und kann mangels großer Vergleichsmöglichkeiten nur mit einem „Scheiße, ist das lecker!“ resümieren.
Los geht es mit RESPIRE, einem Sechser aus Toronto, den es erst seit 2013 gibt. Die Melange aus Screamo, Post Rock, Black Metal und Emotional Hardcore passt zum KIEL EXPLODE, als wäre sie dafür erfunden worden. Mit drei Gitarristen und einer Violinistin wird ein facettenreicher und zugleich mächtiger Sound aufgefahren. Es werden auch zwei Stimmen eingesetzt – die beiden dafür zuständigen Gitarristen haben ihre Mikros nicht „traditionell“ nach vorne ausgerichtet, sondern seitlich, sodass sie sich gegenüberstehen und sich anzuschreien scheinen. Schon erstaunlich, wie HC/Punk sich weiterentwickelt hat: Wo frühe Hardcorebands von einer gewissen Selbstsicherheit geprägt waren, die sich ja auch in Texten wie „My rules, my way, my dingsie“ manifestierten, stellen RESPIRE eher in Frage: leidend, flehend, hoffnungslos. Häufig sind die Stücke aber auch mit unerwarteten Wendungen versehen, bäumen sich kämpferisch auf und scheinen Hoffnung zu vermitteln: Ein anderes Leben ist möglich!
Schlau von mir: Für die nächsten beiden Wochen habe ich bereits zwei Zahnarzttermine gebucht. Und so kann ich mich völlig entspannt mit offener Futterluke in die erste Reihe stellen. Während FREDAG DEN 13:DE hemmungslos in selbige reintreten, bleibt mein seliges Lächeln bestehen: Good dental, boys, do your worst! So wendet sich das Göteborger Abrisskommando irgendwann dem großen Ganzen zu und versucht sich am Abriss der Alten Meierei. Gekonnt versetzt eine stetige Bassdrumattacke die Wände in Vibration, während die Gitarren an den tragenden Pfeilern sägen. Das Gekreisch des Sängers lässt Mauer, Stein und Eisen zerbröseln, ganz im Stile von DISFEAR, SKITSYSTEM oder VICTIMS. Unfasslich treibend, brutal und mit diesem Element versehen, dass dich unwiderstehlich nach vorne zieht. So muss konstatiert werden, dass FD 13 eine der besten Bands des Tages sind und wohl nur aus Nächstenliebe auf den letzten, alles zum Einsturz bringenden Todesstoß verzichten. Danke!
Wie immer ist die Bandreihenfolge perfekt orchestriert, denn jetzt folgt mit den Duisburgern MAGMA WAVES eine Instrumental-Post-Rock-Chillung zum Runterfahren. 2016 hatten die stilistisch und personell verwandten KOKOMO einen ähnlichen Effekt erzielt – sie spielten damals nach TOTEM SKIN. Zu solcher Mucke lässt sich super lesen, finde ich immer. Jetzt habe ich aber gerade kein Buch dabei, daher schließe ich die Augen und genieße dieses Gefühl des Schwebens, welches durch flirrende Gitarrenklänge, sanfte Beats und die melancholisch-verträumte Grundstimmung erzeugt wird. Obwohl die Stücke Überlänge aufweisen und es keinerlei Gesang gibt, wirken MAGMA WAVES nie langweilig. Eine schöne Stelle bleibt in Form eines Dialogs im Gedächtnis, der möglicherweise aus einem Film gesampelt wurde: Frauenstimme: „Are you afraid of god?“ – Männerstimme: „No, but I’m afraid of you.“
Der Kollege Doom Fränk schrieb zum 2017er Kiel-Auftritt von MYTERI die passenden Worte: „Hier meutern keine Leicht-, sondern Vollmatrosen!“ Jetzt weiß ich endlich, was er damit exakt meinte. Der Melodic Crust donnert im Uptempo durch die Hütte und zwingt die Fäuste aller Anwesenden förmlich in die Höhe, selbst wenn sie mit der Situation auf dem Schiff im Allgemeinen und den Befehlen des Kapitäns im Speziellen gar nicht soo unzufrieden sind. Hier wirste mitgerissen, angestachelt von einem Sänger, der sich ungehindert von einem Instrument auf die Kernkompetenz des cleanen Growlens zu fokussieren vermag. „Mördare I Uniform“, „Deserter“, „Justitiemord“ oder „Deforestation“ sind Titel, von denen ich zwar nicht weiß, ob sie in der Setlist sind, für die man aber sicher keinen Schwedischkurs belegen muss, um zu kapieren, worum es geht. Enterhaken smashed face!
Ein Snack, ein Bier und weiter geht’s. TELEPATHY sorgen für Abwechslung, schlagen sie doch eine Richtung ein, die wiederum ganz anders ausfällt als alles Vorangegangene. Höchstens MAGMA WAVES wären vergleichbar, denn auch bei TELEPATHY gibt es (fast) ausschließlich Instrumentalmucke. Aber metallischer, wuchtiger, rifforientierter. In England tut sich ja seit einigen Jahren wieder ganz gehörig etwas, TELEPATHY sind ein weiterer Beleg dafür. Ihre Einflüsse pendeln zwischen Black Metal, Sludge, Doom und Post Rock. Aufwühlende Riffs, donnernde Basslinien, vorwärtstreibende Drums und die Zerbrechlichkeit typischer Postrock-Gitarrensounds werden hier nicht einfach wie aus dem Setzkasten verwendet, sondern transportieren tiefe emotionale Eindrücke von Gram, Schauer und Verzweiflung. Wenn ich es richtig mitbekomme, was mir ein Insider erzählt, geht es in deren neuestem Album inhaltlich um einen Menschen, der als einziger eine gigantische Flut überlebt und nun einsam umherwandert. Was für ein Konzept! Und genau so klingt die Band auch.
THE TIDAL SLEEP erwischen einen leicht schwächeren Sound als alle anderen heutigen Bands, finde ich. Da aber der Klang generell nahezu perfekt ausfällt, ist das ein Kritteln auf sehr hohem Niveau. Der Gesang ist recht verhallt, was aber auch gewollt sein kann. 2015 hatte ich die Band mit DEFEATER verglichen, und weiterhin zocken THE TIDAL SLEEP Hardcore mit Screamo- und Postpunk-Elementen. Das Ganze wird quirlig vorgetragen und steckt mit rastloser Energie dazu an, sich zu bewegen, ja, einige Beats könnte man gern schon als tanzbar bezeichnen. Auch TDS reizt das Spiel mit Gegensätzen, also fragilen Melodien und brachialen Riffbergen – sie gefallen mir heute immer dann am besten, wenn sie in den schnelleren Abgehmodus schalten.
Nach dem Killerauftritt von 2016 ist es fast zu erwarten: Zu SVALBARD kommen alle Besucher*innen rein, bei keiner anderen Band ist es voller. Selten hat eine Band diesen ganz Post-Kosmos derart homogen in Songs gegossen. Wenn ich auf Details wie Blastbeats, episches Gitarrengeflirre oder den aggressiven Gesang verweise, laufe ich Gefahr, zu verschweigen, dass bei SVALBARD wirklich der Song an sich im Vordergrund steht. Häufig eingängig, immer mitreißend! Erfreulicherweise haben die Engländer*innen ihr neues Album namens „It’s Hard To Have Hope“ dabei, welches an den unfasslich guten Vorgänger anzuschließen scheint. Die Texte sind harter Tobak, man lese nur mal in „Revenge Porn“ („Private photos so maliciously leaked / They only serve to kill off womens self esteem / How many have been left feeling too humiliated to seek help? / Broken by digital torment and desperate to get out”) oder “Feminazi?” (“You associate feminisn with something so hated. So undesirable / But wrapping our words up in thorns / will not make them undiscussable”). Sängerin/Gitarristin Serena Cherry verleiht dieser berechtigten Wut derart viel Ausdruck und Gesicht, dass es dem Schaffen von SVALBARD eine weitere Ebene hinzufügt. Zusammen mit GOLD mein Highlight.
Acht Bands schon wieder, wa? Durch das extreme Abwechslungsreichtum des Festivals fühlt man sich irgendwie gar nicht so übersättigt oder durchgenudelt. GOLD gönnen sich jedenfalls noch viele Besucher*innen mit Vergnügen. Das letzte Gastspiel in der Meierei ist erst etwas länger als ein Jahr her, die beiden Auftritte lassen sich von daher gut vergleichen. Wieder tritt Sängerin Milena Eva im schwarzen Business Anzug auf, agiert wie auf einer Theaterbühne, indem sie die Songs durchlebt, teilweise so, als befände sie sich in einem Dialog mit einem fiktiven Gegenüber. Ihr Gesang ist anfänglich etwas zu leise im Mix, wobei die instrumentale Wucht, der Groove und die Präzision der drei Gitarren wie immer auch erschlagend sind. Thomas Sciarone setzt mit seinen Soli gehirnzellenzerfetzende Ausrufezeichen, eingebettet in diesen düsteren, psychedelischen Sound. Wie beim letzten Mal richtet Milena Eva keinerlei Ansagen an das Publikum, was nur konsequent ist, denn zum Stil der Niederländer*innen würde es auch überhaupt nicht passen, die Leute zu irgendwelchen bestimmten Reaktionen zu animieren.
Es kann somit nur das Fazit gezogen werden, dass auch das achte KIEL EXPLODE wieder überaus gelungen war. Respekt, Dank und Gruß an alle Beteiligten!