ANTIFASCHISTISCHE DEMONSTRATION
Mittwoch, 11. Juli 2018 | 17 Uhr | Alfons-Jonas-Platz | Kiel-Gaarden
Die Urteilsverkündung im NSU-Prozess, also der Tag X, an dem wir auch in Kiel auf die Straße gehen werden, ist am Mittwoch, den 11. Juli 2018.
Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze. Im Sommer 2018 wird der Prozess nach etwa 400 Verhandlungstagen zu Ende gehen. Unabhängig davon, welchen Ausgang der Prozess nimmt: Für uns bleiben mehr Fragen als Antworten. Wir werden daher zum Prozessende zusammen auf die Straße gehen. Denn wir werden den NSU nicht zu den Akten legen.
Wir wollen wissen, wer für die Mordserie, die Anschläge und den Terror verantwortlich ist. Die Beschränkung der Bundesanwaltschaft auf das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und ihr näheres Umfeld, ignoriert den Netzwerkcharakter des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Der NSU war keine isolierte Zelle aus drei Personen, der NSU war auch mehr als die fünf Angeklagten vor dem Oberlandes gericht. Auch die Arbeit der Nebenklage hat diese Grundannahme längst widerlegt. Ohne militante Nazi-Strukturen wie „Blood and Honour“, lokale Kameradschaften oder etwa den Thüringer Heimatschutz um V-Mann Tino Brandt und Ralf Wohlleben, wäre der NSU wohl schwer möglich gewesen. Die Aufklärung im Rahmen des Prozesses wurde jedoch konsequent unterbunden. Die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Weigerung, der Nebenklage komplette Akteneinsicht zu gewähren, sind ein klares Zeichen für diese Unterbindung.
Es geht uns um die Entschädigung der Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen sowie die Würdigung ihrer Perspektive in der Debatte. Es war besonders das Umfeld der Mordopfer, das früh darauf bestand, eine rassistische Motivation für die Taten in die Ermittlungen einzubeziehen. Dies demonstrierten die Schweigemärsche in Kassel und Dortmund, die unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ die Aufklärung der Mordserie forderten. Die notwendige Unterstützung der Betroffenen wurde auch von bestehenden Antifa-Strukturen nicht geleistet. Sie versäumten es, die Stimmen der Angehörigen ernst zu nehmen und sie in der Gesellschaft wahrnehmbar zu machen. Dabei wäre es gerade Aufgabe antifaschistischer Gruppen gewesen, lautstark auf die Möglichkeit eines rassistischen Tathintergrundes hinzuweisen.
Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft richteten sich währenddessen vornehmlich gegen das Umfeld der Opfer und Betroffenen. Immer wieder gerieten auch Hinterbliebene der Ermordeten ins Visier der Behörden. Aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft konnten sie keine große Anteilnahme erwarten: als Menschen mit Migrationsgeschichte durften sie nicht einfach Opfer sein – etwas „potentiell Kriminelles“, „irgendwie Gefährliches“ musste doch an ihnen haften – so die Mehrheitsmeinung in Deutschland. Dies zog sich wie ein roter Faden durch die Ermittlungen, sowohl bei den „Česká-Morden“ als auch bei den Anschlägen des NSU, etwa auf die Kölner Keupstraße. Dabei gab es zwischen den einzelnen Taten nur eine entscheidende Gemeinsamkeit: die Ermordeten, die Verletzten, die Attackierten waren durch ihre Migrationsbiografie ins Visier des rassistischen Terrors geraten. Und es waren rassistische Ressentiments bei Polizei und Sicherheitsbehörden, welche die Ermittlungen in die Irre führten. Es waren rassistische Klischees in den Polizeimeldungen, die von Presseberichterstattung und Medien unhinterfragt wiedergegeben wurden. Dort wurden die fantastischen Erzählungen von mafiösen und kriminellen Verstrickungen ohne jegliche Empathie mit den Betroffenen verstärkt. Die Presse sprach von sogenannten „Döner-Morden“ und phantasierte über eine „schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken“ und von Banden, „die aus den Bergen Anatoliens heraus operieren“.
Wir müssen über Rassismus reden. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem. Und das gilt wortwörtlich: Diese Gesellschaft hat ein Rassismusproblem, und zwar ein gewaltiges. Rassismus wird dabei fälschlicherweise oft nur bei klassischen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versammeln. Rassismus findet statt in Ämter – und Behördenpraxis, Polizeiarbeit, letztlich in der Art wie gesellschaftliche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus wird in marktschreierischen Wahlkampfauftritten wie auch in subtil und vornehm formulierten Leitartikeln benutzt. Rassismus geht von den Mitgliedern der Gesellschaft aus: Weil die Gesellschaft, wie sie derzeit eingerichtet ist, Hierarchie, Ausbeutung und Ausgrenzung zwingend hervorbringt und legitimieren muss. Weil eine von Herrschaft durchzogene Gesellschaft, in der Ressourcen und Positionen ungleich verteilt und umkämpft sind, nicht allein durch den Bezug auf eine angebliche gemeinsame „Kultur“ zusammengehalten werden kann, sondern die Abwertung anderer „Kulturen“ benötigt. Weil die „eigene“ Identität stabilisiert wird, indem negative Elemente auf die Projektion der „Anderen“ abgewälzt werden.
Wir fordern die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz wusste nicht zu wenig, sondern zu viel. Das wurde bereits in den ersten Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU deutlich. Doch während Image und Legitimität des Inlandsgeheimdienstes zumindest zwischenzeitlich Schaden nahmen und viele Stimmen bis weit ins bürgerliche Lager seine Abschaffung forderten, ging er letztlich doch unbeschadet aus der Affäre heraus und steht mittlerweile wahrscheinlich sogar besser da als zuvor. Er konnte nicht nur seine gesellschaftliche Reputation wiederherstellen, sondern sogar seine Befugnisse ausweiten. Für uns ist die Sache jedoch nicht erledigt: Für uns bleiben Fragen: Fragen bezüglich der wiederholten, planmäßigen Vernichtung relevanter Akten; Fragen zur Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der sich im Internetcafé Halit Yozgats aufhielt, als dieser ermordet wurde, und angeblich nichts bemerkt haben will; Fragen zu V-Mann Piatto, der schon 1998 wichtige Hinweise über die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe weitergab; Fragen zu Ralf Marschner, der als V-Mann Primus im Kontakt mit den Untergetauchten gestanden haben soll. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Im Kampf gegen rechte Strukturen schließen wir uns nicht den wiederkehrenden Rufen an, der Verfassungsschutz solle künftig bitte auch diese oder jene rechte Gruppe beobachten. Nazis sind auch ohne Gelder, Aufbauarbeit und logistische Unterstützung des Geheimdienstes gefährlich genug. Mindestens diese Lehre sollte aus dem NSU gezogen werden.
Wir wehren uns gegen rassistische Stimmungsmache und Gewalt. Der NSU war nicht die erste Neonazi-Terrororganisation und es sieht auch nicht so aus, als sei er die letzte gewesen. In den letzten Monaten laufen und liefen mehrere Prozesse gegen Zusammenschlüsse wie die „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“. Daneben häufen sich die Meldungen von immer neuen Waffenfunden bei rechten Strukturen, immer neue gewaltbereite rechte Organisierungsansätze sprießen regelrecht aus dem Boden. Die Zahl der Brandanschläge und rassistischen Übergriffe ist in den letzten Jahren gravierend angestiegen. Und während sich der nette Herr von nebenan im Internet mit „Migrantenschreck“ genannten Schusswaffen eindeckt, legen die Entscheidungsträger_innen mit dem Abbau des Asylrechts und neuen Integrationsgesetzen vor, setzen Ausländerbehörde und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Abschreckung, werden Sammelabschiebungen auf den Weg geschickt und Abschiebelager hochgezogen.
Nach fünf Jahren lässt sich ein frustrierendes Fazit ziehen. Noch immer wird rechte Gewalt verharmlost, noch immer darf sich der Verfassungsschutz als Beschützer inszenieren, noch immer hat diese Gesellschaft Rassismus nicht überwunden, noch immer ist es nötig auf den institutionellen Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden hinzuweisen, wie es Selbstorganisierungen von Betroffenen nicht erst seit gestern tun. Es wurden von Seiten der Mehrheitsgesellschaft keine erkennbaren Lehren aus dem NSU gezogen. Höchste Zeit also, dass sich das ändert. Initiativen wie „Keupstraße ist überall“ oder das „NSU-Tribunal“ und die zahlreichen Vereinigungen, die lokal im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NSU zusammen kamen, haben vorgemacht wie es geht.
Auch in Schleswig-Holstein war der NSU vor Ort. Für den NSU war die Ostsee nicht nur Urlaubsland, wie die Berichte der Campingnachbar_innen auf Fehmarn nahelegen. Vielmehr pflegten die Terrorist_innen freundschaftliche Kontakte zu Neonazis in Schleswig-Holstein, die im Ausgang ähnliche Gedanken hatten. So verwundert es nicht, dass sich etwa 20 Objekte aus Kiel auf Karten mit potentiellen Anschlagszielen befunden haben, die im Schutt der ausgebrannten Wohnung gefunden wurden.
Am Tag der Urteilsverkündung wollen wir mit euch auf die Straße gehen. Denn für uns bedeutet das Ende des Prozesses nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und der Gesellschaft, die ihn möglich machte:
Kein Schlussstrich!– NSU-Komplex aufklären und auflösen!
Verfassungsschutz auflösen – V-Leute abschaffen!
Dem aktuellen rassistischen Terror gegen Flüchtlinge und Migrant_innen entgegentreten!
Rassismus in Behörden und Gesellschaft bekämpfen!