Spontane Antirepressionsdemo
Mittwoch, 15.11.2017 | 18 Uhr (pünktlich!) | Berliner Platz (Starbucks) | Kiel
Ermittlungsausschuss (EA): 0431 / 530 34 35
„Zunächst einmal möchte ich sagen, dass die Herrschaften Politiker, Polizeikommissare und Staatsanwälte wahrscheinlich glauben, dass sie den Dissens auf den Straßen aufhalten können, indem sie ein paar Jugendliche festnehmen und einsperren. Wahrscheinlich glauben diese Herrschaften, dass das Gefängnis ausreicht, um die rebellischen Stimmen aufzuhalten, die sich überall erheben. Wahrscheinlich glauben diese Herrschaften, dass die Repression unseren Durst nach Freiheit aufhalten wird. Unseren Willen, eine bessere Welt zu erschaffen. Nun gut, diese Herrschaften täuschen sich. Sie liegen falsch, das beweist auch die Geschichte.“ (Aus der Prozesserklärung des G20-Gefangenen Fabio vom 7.11.2017)
Diesen Montag erfolgte vorm Hamburger Amtsgericht erneut eine Verurteilung eines Teilnehmers der massenhaften, vielfältigen und widerständigen Aktionen gegen den G20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg. Ein 19Jähriger muss vorm Staat mit einer zur Bewährung ausgesetzten Gefängnisstrafe dafür büßen, dass er am Gipfelfreitag an der Plünderung des Ladengeschäfts einer Supermarktkette beteiligt gewesen sein soll, bei der das reichhaltige Warensortiment in den Regalen kostenfrei und zu deren Freude an Anwohner_innen und Passant_innen umverteilt wurde. Zudem stehen in dieser Woche weitere Prozesstage an: Darunter müssen sich auch unsere Genossen Fabio aus Italien und Konstantin aus Russland vor den Hamburger Amtsrichter_innen verantworten. Beide Prozesse mussten in den letzten Wochen dank kämpferischer Verteidigungsstrategien bereits mehrfach vertagt werden. Bisher sind keinerlei Beweise für die den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen ans Tageslicht gekommen. Nichtsdestotrotz wurden Fabio und Konstantin bereits seit ihrer Festnahmen im Juli in Untersuchungshaft gefangen gehalten und der unbedingte politische Verurteilungswille der Hamburger Justiz lässt möglicherweise noch im Laufe dieser Woche weitere Gesinnungsurteile befürchten.
Eine Woche lang waren auch wir zusammen mit den nun stellvertretend für uns alle Angeklagten und zehntausenden Anderen auf den Straßen Hamburgs aktiv und trotzten der Besatzung der Stadt durch 31000 schwer bewaffnete Polizist_innen. Gemeinsam und entschlossen eroberten wir uns das Recht zurück, die Selbstinszenierung der 20 mächtigsten Staats- und Regierungschef_innen dieser Welt mit unserem unversöhnlichen und unübersehbaren Widerspruch gegen Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus und autoritäre Formierung, gegen ihre Weltordnung der Ausbeutung, der Abschottung, der Naturzerstörung und des Krieges zu konfrontieren.
Als der Gipfel schließlich in seinem durch Ausnahmezustand und Überheblichkeit selbstverursachten Chaos versank, gerieten die politisch Verantwortlichen, insbesondere der sozialdemokratischen Hamburger Scholz-Grote-Riege, unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Ihr politisches Überleben sicherten sie sich nur durch eine aufwändige Propagandaoffensive inklusive diverser nachgewiesener Lügenmärchen im Nachklang des Gipfels. Die noch wenige Tage zuvor live in alle Welt übertragenen Tatsachen wurden in ihr Gegenteil verkehrt und das politische Desaster der Hamburger Stadtoberhäupter versucht, auf die Gipfelgegner_innen abzuwälzen: Als Skandale im öffentlichen Diskurs dominierten nun nicht mehr die qua Einsatzkonzept um sich prügelnden Polizeiarmeen, die vielen schwerverletzten Demonstrant_innen, die systematischen Schikanen gegen Anwohner_innen, die unverhohlenen Rechtsbrüche der Polizeiführung, die gewaltsam geräumten Protest-Camps und die mörderische Politik der G20. Mit freundlicher Unterstützung reaktionärer Mainstream-Medien gerieten stattdessen die Aktionen derjenigen Aktivist_innen von Nah und Fern in den Fokus der autoritären Hetze, die sich tagelang solidarisch, unbeugsam und erfolgreich gegen die repressiven Hamburger Zustände zur Wehr gesetzt hatten, die sich nicht einschüchtern ließen und sich an den zahllosen kleinen und großen Demonstrationen beteiligten oder der Polizei aktiv Schranken aufzeigten.
Die abenteuerlichen Urteile in den Prozessen, die vor einigen Wochen vor den Hamburger Amtsgerichten vor allem gegen die seit Juli in Untersuchungshaft eingesperrten Genossen aus dem Ausland begonnen haben, sollen nun die Köpfe liefern, die eine solch wackelige Geschichtskonstruktion braucht, um nachhaltig Bestand haben zu können. Das eigens zum Gipfelgeschehen eingeführte juristische Werkzeug des §114, nach dem sogenannte Tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte prinzipiell mit Freiheitsstrafen geahndet werden, erklärt Polizist_innen per Gesetz zu Menschen erster Klasse und bricht alle Dämme der uferlosen Repression nicht nur gegen Demonstrant_innen, sondern gegen alle, die in ihrem Alltag strukturell Ziel von Polizeieinsätzen werden. De Facto bedeutet er, dass ein_e Polizist_in von nun an quasi per Fingerzeig beliebig unliebsame Menschen hinter Gitter schicken kann.
Bei der Verängung von Haftstrafen für unbewiesene Flaschenwürfe ohne ermittelbare Geschädigte durch eine politisch motivierte Gesinnungsjustiz am Fließband, opfert der liberale Rechtsstaat mal wieder nicht nur seine vielgepriesenen Prinzipien, sondern ist bereit, Existenzen von teils sehr jungen Genossen zu zerstören, um uns allen zu Verstehen zu geben: „Wagt nie wieder, Euch dem Staat und seinen ausführenden Organen zu widersetzen!“ Wenn wir uns dem laufenden staatlichen Rachefeldzug in den Weg stellen, verteidigen wir also nicht nur unsere stellvertretend für uns alle betroffenen Genossen im Speziellen, sondern unsere zukünftige politische Handlungsfähigkeit als widerständige Bewegungen im Allgemeinen!
Doch schwer verletzte linke Aktivist_innen, die in Folge von Polizeiübergriffen mit Knochenbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen, gab und gibt es weder nur in Hamburg, noch nur im Ausnahmezustand großer Gipfelevents. Dass Polizeigewalt, entgegen der viel zitierten Legende von der Polizei als Opfer, eine dem Staatsprinzip an sich und überall untrennbar verbundene Handlungsoption ist, um Menschen zu disziplinieren, die die Spielregeln zum Schutz der herrschenden Ordnung vermeintlich oder tatsächlich in Frage stellen, wurde einer Antifaschistin im April dieses Jahres auch in Kiel schmerzlich in Erinnerung gerufen: Weil sie dem Befehl, sich durch die Besatzung einer Polizeistreife kontrollieren zu lassen, die im Stadtteil Mettenhof gerade Jagd auf Entsorger_innen von rassistischen AfD-Plakaten machte, nicht umgehend Folge leistete, wurde sie von einem der Polizisten gewaltsam zu Boden gerissen, wobei sie sich schwerste Verletzungen im Knie zuzog. Sie musste per Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden, sich einer langen Operation unterziehen und drei Wochen im Krankenhaus verbringen. Unsere Genossin erlitt einen Bruch, Bänderrisse, einen Kreuzbandriss und anderes. Insgesamt lag sie, bedingt durch eine weitere Operation, sechs Wochen im Krankenhaus.
Auch in diesem Fall kam es zunächst zu einer Strafanzeige gegen die Betroffene durch die Polizei. Erst als sie und ihre Unterstützer_innen durch eine Gegenanzeige Widerstand gegen dieses standardisierte Polizeivorgehen ankündigten und den Vorfall öffentlich machten, wurde das Ermittlungsverfahren ob der Offenkundigkeit der brutalen Polizeigewalt eingestellt – gleichzeitig jedoch auch das gegen den Gewalttäter in Uniform. Die Behörden wollen so einer für sie potentiell unangenehmen öffentlichen Auseinandersetzung ausweichen. Doch wir garantieren ihnen: Wir vergessen nichts, auch weil der Angriff auf unsere Genossin eben nur ein besonders drastisches Beispiel der Schikane und Gewalt darstellt, mit der wir als renitente Aktivist_innen in schlechter Regelmäßigkeit immer wieder konfrontiert sind.
Die nach dem G20-Gipfel zunehmenden Angriffe auf linke Strukturen finden statt in einer Zeit, in der autoritäre bis offen faschistische Kräfte sich in vielen Teilen der Welt als Antwort auf die zunehmenden sozialen Spannungen, politischen Zerwürfnisse und Ungewissheiten des Spätkapitalismus in Stellung gebracht haben. Riesig scheinen in Anbetracht ihrer die Herausforderungen, mit denen Träger_innen emanzipatorischen Begehrens, die sich nicht mit der Brutalisierung menschlichen Zusammenlebens abfinden wollen, umzugehen haben. Auch dies mag derzeit mit dazu beitragen, dass die Reaktionen der Linken auf die Hamburger Urteile, genauso wie z.B. auf das Verbot und die Zerstörung von Indymedia Linksunten, bisher übersichtlich geblieben sind. Doch die Gefangenen sind unsere Würde und unsere Infrastruktur das Werkzeug unseres Widerstands. Beide zu verteidigen ist gerade in Zeiten großer Herausforderungen Schuld und Selbstschutz von uns allen zugleich.
Wir rufen deshalb als kurzfristige Antwort auf das Urteil am Montag sowie die weiterhin drohenden Verurteilungen unserer Genossen Fabio und Konstantin und in Solidarität mit allen anderen von Repression betroffenen G20-Gegner_innen dazu auf, spontan, laut und wütend in Kiel auf die Straße zu gehen. Wir sind dabei auch an der Seite aller Menschen, die derzeit in Katalonien, in der Türkei und überall sonst auf der Welt innerhalb und außerhalb der Knäste und Krankenhäuser ihre Würde und ihre Selbstbestimmung gegen den Zugriff der Staatsgewalt verteidigen und weiter für ein Miteinander aller Menschen in Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit aufbegehren.
Die autoritäre Formierung stoppen – weg mit §114!
Die G20-Gefangenen müssen raus – Freiheit für alle Gefangenen weltweit!
Widerstand bleibt notwendig – linke Politik verteidigen!