Ausdruckstanz, entrückte Mienen und Headbanging

Heat, YRA, Grizzly Rider, Kalle Reuter Power Trio / 20.09.2013 – Kiel, Alte Meierei

Das ist doch mal eine interessante Zusammenstellung! Einzig der Name der ersten Band, Kalle Reuter Power Trio, sagt mir im Vorfeld nichts, aber von den 70er-Rockern Heat dudele ich seit Monaten das Debut und Grizzly Rider sowie YRA wären jeweils auch allein Besuchsgrund genug, gehören doch mehrere Bandmitglieder quasi zur Familie. Als familiär lässt sich auch konsequenterweise die Zusammensetzung der Zuschauer_innenschar bezeichnen – jede_r kennt jede_n, zumindest fast. Mag ich ab und an mal gern (immer möchte man die Hackfressen natürlich auch nicht sehen, aber – psst! – sagt dat nicht weiter)!

Als ich gerade im Café der Meierei sitze und mit den OBEY!-Jungs plaudere, beginnen KALLE REUTER TRIO. Wir sabbeln noch ein paar Stücke lang weiter, automatisch entsteht ein Bild vor meinem geistigen Auge, welches die Band zeigt: Sicherlich drei bierbäuchige Typen um die 50. So sieht so ’ne Band doch aus, die derart hart abbluest? Und ich hätte auch ganz klar nichts dagegen gehabt, bin dann aber doch überrascht, als ich zur Bühne schlurfe. Kalle Reuter, sofern der Gitarrist denn wirklich so heißt und das kein Pseudonym ist, entpuppt sich als 14-Jähriger. Alter, und der spielt den Blues derart selbstverständlich, als tue er dies seit Jahrzehnten! Es wirkt auch nicht so, als kopiere der Typ lediglich etwas, sein Spiel hat vielmehr Seele und Charakter. Brille, Polohemd, Pickel – drauf geschissen, fuck lookism, es zählt, was er aus der Klampfe holt. Dazu nutzt er übrigens nicht nur seine Hände, sondern auch seine Zähne (Yeah!), eine Bierpulle (warum nicht) und einen Geigenbogen. Bassist und Drummer sind übrigens deutlich älter, letzterer spielt auch bei GOLGI COMPLEX und YOUR DYING TRUTH, meine ich.

Zeit, wieder den Bären flattern zu lassen! Doch halt. Irgendetwas ist anders bei GRIZZLY RIDER. Zunächst sieht Matt irgendwie …intelligenter aus. Auch attraktiver. Ob das an der geschmackvollen Kutte liegt, die der Kerl heute trägt? (Ich meine mich übrigens zu erinnern, dass er exakt dieses Teil bereits als kleener Hosenscheißer im Schulbus getragen hat – Matt und ich sind beide aufs Ernst-Barlach-Gymnasium gegangen.) Möglicherweise wichtiger: Die Band hat geübt. Und wie! Jetzt wird auch klar, warum Strecker sich in letzter Zeit so rar gemacht hat. Jeglichen fleischlichen und geistigen Genüssen hat er widerstanden, selbst vorgekostete Lütje Minze verschmäht. Ebenso Schlagzeuger Harry, der VIEL besser spielt als zuvor. Konnte man bisher von hohem Potenzial in Bezug auf GRIZZLY RIDER sprechen, so werden die Stücke heute rund gespielt. Und klingen gleich um ein Vielfaches besser. Da kristallisieren sich plötzlich doomige Riff-Schönheiten heraus, zu denen Matt passend schmettert. Seine Aufforderung „Don’t Feed The Bear With Beer“ wird normalerweise respektvoll befolgt. Auf den im Mob marodierenden Andi Harkonnen wirkt sie allerdings so wie auf Homer Simpson die Worte: „Drück nicht den roten Knopf!“ NATÜRLICH hüpft Harkonnen Junior auf die Bühne und zwingt dem hilflosen Bären einen Humpen in den Schlund. Und als Matt in der folgenden Pause warnt, der Bär könne nun abhängig geworden sein, wird auch dies als Aufforderung zum Handeln verstanden. Nur bekommt der Bär den Schwall dieses Mal durch die Augenschlitze seiner Maske eingetrichtert und torkelt danach orientierungslos über die Meierei-Bühne… Doch etwas Schwund gibt es immer und GRIZZLY RIDER spielen heute ihren bisher besten Auftritt.

Auf YRA freue ich mich zwar ebenfalls, spielen dort doch Johannes und Jan von CHIPKO mit, was mich konkret erwartet, ahne ich jedoch nicht. Ein musikalisches Kaleidoskop öffnet sich vor mir. Wären Töne Farben (und für Synästhetiker ist das ja so), wäre das Erlebte nur mit dem wilden Kampf mehrerer Regenbogen miteinander zu vergleichen. Ist das der sogenannte Shoegaze, von dem ich ständig lese? Die Stücke sind rein instrumental gehalten und enthalten derart sinnverwirrend viele Informationen, dass Gesang hier wirklich überflüssig ist. Wahrscheinlich auch unmöglich, zu diesem Irrsinn zu singen! Dabei muss unbedingt auch darauf hingewiesen werden, dass YRA nicht langweilig rumdudeln oder die Stücke auch nur einen Moment vor sich hinplätschern! Nope, das Ganze wird sehr vehement vorgetragen und hat Durchschlagskraft. Nach einigen Songs kommen die HEAT-Musiker aus dem Backstageraum und schauen neugierig zur Bühne. Eine Band, die sich in die geschmackvolle Auswahl der Spiral-Of-Noise-Konzertgruppe einreiht!

HEAT sind heute bereits zum zweiten Mal in Kiel. Den ersten Besuch bei uns hatte ich leider verpasst. Noch ist die Band nicht so bekannt wie KADAVAR, GRAVEYARD oder HORISONT. Aber es würde nicht überraschen, wenn sich das mal ändert. Denn auch HEAT zocken zeitlos geil! Manche mögen von einem Retro-Trend unken, meiner Meinung nach ist das eine vollständig begrüßenswerte Entwicklung, die bereits diverse kapitable Kracheralben hervorgebracht hat. Die HEAT-LP „Old Sparky“ gehört unbedingt dazu. Live klingen HEAT gar noch besser, besonders der Sänger setzt stärkere Akzente und klingt eindringlicher als auf Platte. Es gelingt den Berlinern, eine dichte Atmosphäre zu kreieren. In der angenehm gefüllten Meierei sieht man jetzt hippiesken Ausdruckstanz, entrückte Mienen und hemmungsloses Headbanging. Ermöglicht wird das auch durch den gut gemischten Gesamtklang, der nicht nur die trippigen und teilweise doomigen Gitarren gut zur Geltung bringt.

Happy End: Sogar der überkritische MetalSon ist begeistert, der heute zum ersten Mal in der Meierei weilt!

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